Platz auf Zeitungsseiten ist kostbar. Und auch wenn das zeitgenössische Zeitungsdesign mehr Platz und Weißraum vorsieht, geht es meist immer noch darum, möglichst viel Inhalt in Text und Bild möglichst gut zu platzieren. Dass dabei von den Blattmacher*innen, wie in der Wochenendausgabe der taz vom 5./6. September 2020, eine komplette Bildseite gestaltet wird, ist die große Ausnahme. Was dabei herausgekommen ist, darum dreht sich diese Bildkritik von Felix Koltermann.
Die Zeitungsseite, mit der die Berliner taz in der Ausgabe vom 5./6. September 2020 ihre als einzelnes Buch erscheinende Rubrik Gesellschaft eröffnete, ist ungewöhnlich. Großzügig wurden drei Schwarz-Weiß Fotos platziert und vom in roter Farbe geprägten Slogan „Bis zum nächsten Jahr!“ überschrieben, ohne dass im weiteren Verlauf ein thematisch passender Artikel folgen würde. Während das kleinste, mittig platzierte Bild, Treppenstufen zeigt, die von einer Straße ans Meer führen, zeigen die anderen beiden zwei Menschen in Nahaufnahmen. Im oberen streckt eine leicht von unten fotografierte junge Frau ihr Gesicht Richtung Sonne, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Das untere Bild zeigt das Gesicht eines Jungen mit Sonnenbrille, dem zwei Personen links und rechts einen Kuss auf die Wange drücken. Näheres über die Protagonist*innen erfahren wir nicht, außer einer kurzen Bildzeile in der es heißt „Aus dem Fotoprojekt „Bitter Summer“ von Jean-Marc Caimi und Valentina Piccinni“.
Woran die Bilder unzweifelhaft erinnern – und vermutlich erinnern sollen – ist die Stimmung eines Sommertages am Meer: Wellen die ans Ufer schlagen, Sonnenbrillen, der Wunsch das Gesicht von der Sonne wärmen zu lassen, … All dies sind Assoziationen, die mit den Bildern aufkommen. Aber es gibt auch eine Art Abschiedsgefühl, die Geste des Wangenkusses, wenn auch gebrochen durch den Bildausschnitt und das Bübische des Gesichts. All dies zu Anfang September publiziert, soll vermutlich das Ende des Sommers einläuten, den Übergang zum Herbst, die Nostalgie ein ganzes Jahr auf den nächsten Sommer zu warten. Und in der mit Ausrufezeichen versehenen Botschaft steckt auch ein Versprechen, auf das Wiedersehen im nächsten Jahr, am gleichen Ort.
Soviel so gut, zu einer möglichen Interpretation der Geschichte. Aber was, so bleibt die Frage, hat dies mit dem Entstehungskontext der Bilder und der Serie „Bitter Summer“ zu tun. Die beiden Fotograf*innen beschreiben das Projekt aus dem Jahr 2017 auf ihrer Internetseite folgendermaßen „Millions of Italians struck by the economy crisis and by various degrees of poverty seek a cheap way to spend their summer holidays. This story documents what happens in Bari, one of the major cities of the country’s South, where in the „Canalone“ seafront thousands of people gather to take advantage of a free beach strip.“ Hier scheint auf, dass es verschiedene Dimensionen gibt, die in der taz-Version keine Rolle spielen, wie der Ort des Geschehens Bari oder die soziale Prekarität der Protagonist*innen. Dies erscheint umso erstaunlicher, ist doch die taz eigentlich genau an diesen Themen interessiert.
Noch abstruser wird der Fall, wenn man in der Datenbank der dieser Bilder vertreibenden Agentur laif nach den Motiven sucht. So heißt es etwa zum Oberen „A girl sun-bathes at the „Canalone“ beach“ und zum unteren „A boy flattered by classmates at the only bar-pizzeria overlooking the „Canalone“ beach“. Darüber hinaus wird auch darauf verwiesen, dass es sich hier um Menschen mit Übergewichtsproblemen handelt, was laut Bildinformation in Süditalien ein weit verbreitetes Phänomen sei und der Strand sich im apulischen Bari befindet und am Rande eines Abwasserkanals liegt. Auch hier ist zu fragen, wie dies zu lesen ist. Wollte die taz bewußt andere Menschen am Strand zeigen, also nicht die Reichen und Schönen mit perfekten Körper? Oder ist da eine Portion Ironie im Spiel?
Problematisch ist die Bildnutzung auch aus ethischer Perspektive. Denn hier werden zwei Personen in den Mittelpunkt einer Aussage gerückt, ohne dass es abseits des Fakts, dass die Bilder von ihnen vermutlich im Sommer entstanden sind, einen Bezug zur taz und deren Seitengestaltung geben würde. Sie fungieren als Platzhalter für eine Botschaft und werden dafür aus einer spezifischen Geschichte der beiden Fotograf*innen Caimi und Piccinni gerissen. Sollten die beiden Protagonist*innen ihre Zustimmung zum Fotografieren gegeben haben – was angesichts der Nähe stark anzunehmen ist – so ist doch anzuzweifeln, dass dies auch eine solche dekontextualisierte Verwertung mit einschloss. Was wir hier beobachten ist eine Praxis, die auch eine Folge der Mehrfachverwertung von Bildern über Agenturen und Datenbanken ist und die auch vor Einzelbildern aus Projekten keinen Halt macht. Für diese Praxis tragen die Fotograf*innen und Agenturen eine Mit-Verantwortung. Wenngleich die größte Verantwortung bei der taz als Bildnutzerin liegt, für die diese Bilder der willkommene Anlass für eine spätsommerliche visuelle Spielerei war, non-chalant die mitgelieferten Bildinformationen ignorierend.
Redaktioneller Hinweis: Nach einer Rückmeldung durch das Fotograf*innen-Duo wurde der Artikel nochmal dahingehend präzisiert, dass die hier geäußerte Bildkritik auf die redaktionelle Verwendung der Bilder durch die taz, nicht das fotografische Projekt an sich abzielt.