Wenn Artikel über das Schicksal von Menschen geschrieben werden, ohne dass diese von einer/m Fotograf*in besucht wurden, stellt dies die Bildredaktionen vor große Herausforderungen bei der Visualisierung. Wie dies der Spiegel in einem Artikel zum Thema Pflege von Angehörigen in Zeiten von Corona löste, ist Thema dieser Bildkritik.
Am 14. Mai 2020 wurde auf dem Onlineportal des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ der Artikel „Zu Hause mit Mama“ der Autorin Milena Hassenkamp publiziert. Thema war die weggefallene Unterstützung für pflegende Angehörige in der Coronakrise sowie die Suche nach staatlicher Hilfestellung. Als Aufmacherbild wurde eine Fotografie gewählt, die eine ältere Frau auf einem Stuhl vor einer Holzwand zeigt, der von einer zweiten Person im Anschnitt die Pyjama-Jacke zugeknüpft wird. Erleuchtet wird die Szene durch Tageslicht, welches durch das Kassettenfenster am linken Bildrand fällt. Als Quelle wird „Terry Vine/Digital Vision/Getty Images“ angegeben. Weiter unten im Text gibt es ein zweites Bild, eine private Fotografie, auf der die Protagonist*innen des Artikels, Renate Walczak und ihre Tochter Sandra Dreischhoff zu sehen sind.
Textlich gerahmt wird das Aufmacherbild von einer Überschrift und einem Teaser, einer Bildunterschrift sowie dem ersten Absatz des Textes. Der mit dem Begriff „Mama“ in der Überschrift hergestellte, sehr persönliche Bezug wird im Teaser durch den Verweis auf eine Betroffene verstärkt, die von ihren Erfahrungen erzählt. Daran knüpft der erste Absatz mit der Nennung des Namens der Protagonistin an. Die Bildunterschrift hingegen wählt einen anderen Bezug und verweist über ein Zitat aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auf die Bedeutung der Familie für die Pflege in Deutschland. Somit sind das Bild rahmenden Kernbegriffe „Mama, Angehörige, Betroffene, Familie“. Die Konsequenz aus der beschriebenen Kontextualisierung ist, bei flüchtigem Lesen im Bild eine Tochter mit ihrer Mutter zusehen und dies mit den Protagonist*innen des Artikels in Bezug zu setzen.
Dass dies eine Fehlinterpretation ist, darauf weist die zweite Fotografie weiter unten im Artikel hin über die im Vergleich schnell sichtbar wird, das im Aufmacherbild andere Personen zu sehen sind. Um zu wissen wer diese sind, ist eine Recherche des Originalbildes in der Datenbank der Agentur Getty Images notwendig, wo es auch auffindbar ist. Dort wird das Bild als Stockfotografie mit der Caption „Woman buttoning pajamas of mother near window“ vertrieben. Stockfotografie bedeutet, dass es sich in der Regel um Modelle handelt, die für bestimmte Szenen posieren und nicht mit realem Namen genannt werden. Über eine Suche nach weiteren Fotografien des Fotografen wird das Arbeitsprinzip der Stockfotografie deutlich. Denn vor dem gleichen Hintergrund der Holzwand und des Kassettenfensters finden sich Aufnahmen von Personen zu anderen Themenfeldern am gleichen Ort (Siehe unten stehendes Bild). Diese sollen laut Caption eine Krankenschwester und eine Patientin visualisieren.
Was bleibt ist die Frage, warum die Spiegel-Redaktion zum einen ein so unpersönliches Aufmacherbild wählte und zum anderen, warum sie das Bild nicht einfach mit dem Zusatz „Symbolbild“ versehen hat. Dann wäre zumindest eine direkte Assoziationskette zur Protagonistin des Textes durchbrochen und der Kontext präzise benannt worden. Gleichwohl bliebe dann immer noch das Unwohlsein darüber, dass es sich bei den Dargestellten um Modelle und eine inszenierte Situation handelt, mit denen der tatsächliche Alltag und das Leben der Betroffenen nicht auch nur annähernd visualisiert werden können. Für diejenigen, die sich tatsächlich für das Thema und die Probleme der Protagonistin interessieren, bleibt damit eigentlich nur, die visuellen Informationen völlig auszublenden.