Der zeitgenössische Journalismus steht vor allem Online vor der Herausforderung, dass nicht mehr nur Reportagen oder Hintergrundartikel bebildert werden, sondern jede einzelne Meldung über Ereignisse weltweit, sei sie auch noch so kurz, ein Bild braucht. Wie sehr dies inhaltliche Fallstricke nach sich ziehen kann, zeigt Felix Koltermann an einem Beispiel des Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Auf der Website des Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) erschien am 18. Januar 2021 um 10:21 Uhr in der Rubrik Politik eine Meldung über die Eskalation des militärischen Konflikts zwischen der palästinensischen Hamas und der israelischen Armee. Betitelt wurde der Artikel folgendermaßen: „Gazastreifen: Israel greift nach Beschuss Hamas Ziele-an“. Unter der Überschrift werden in drei kurzen Sätzen die wichtigsten Informationen des Artikels aufgezählt. Visualisiert wurde die Meldung mit einer Fotografie, die eine auf einem Plastikstuhl sitzende Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß zeigt. Sie sitzt vor einer Wand und links und rechts von ihr sind Säcke mit Lebensmitteln zu sehen. Die Bildunterschrift lautet: „Israels Armee hat Ziele im Gazastreifen bombardiert. Verletzt wurde nach Berichten der Armee niemand“. Als Quelle des Bildes wurde „Imago Images/ZUMA Wire“ angegeben. Ein Fotografenname wurde nicht aufgeführt.
Die Besonderheit des Layouts der RND-Webseite ist, dass die Bildunterschrift erst dann zu lesen ist, wenn man auf einen Pfeil links im Bild klickt und die Bildunterschrift somit erst sichtbar wird. Insofern stellen die Überschrift, die Aufzählung der zentralen Inhalte des Artikels, sowie der Beginn des Artikels die wichtigsten Textelemente dar, die eine Kontextualisierung des Bildes ermöglichen. Da die Meldung Angriffe auf den Gazastreifen zum Thema hat ist zu vermuten, dass die dargestellte Szene sich ebenfalls im Gazastreifen abspielt. Darüber hinaus fragt man sich als Betrachter, inwiefern die Frau möglicherweise von den Angriffen betroffen war und ob die Lebensmittel in Bezug zu den Ereignissen stehen. Die zentralen Akteure der Nachricht, die israelische Armee und die Hamas, sind im Bild ebenso wenig zu sehen wie das Ereignis des Angriffs selbst. Insofern handelt es sich hier eher um den Versuch einer abstrakten Visualisierung des Sachverhalts.
Ob und inwieweit das Thema der Meldung und das Thema der Fotografie tatsächlich in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, lässt sich nur über eine Recherche des Bildes bei der Agentur klären, die das Bild vertreibt. Da ZUMA Press die eigene Bilddatenbank nur registrierten Kunden zugänglich macht, bleibt nur eine Recherche bei Imago. Dort lässt sich das Bild bei einer Recherche mit dem Schlagwort Gaza finden. Wir erfahren zum einen den Namen des Fotografen, Ashraf Amra, zum anderen ist in der Bildunterschrift folgendes zu lesen: “January 14, 2021, Al-Shati, Gaza Strip, Palestinian Territory: Palestinians wait to receive food supplies at an aid distribution center, amid the outbreak of the coronavirus disease (COVID-19), in al-Shati refugee camp, west Gaza city on January 14, 2021.“ Damit ist klar das das RND ein vier Tage altes Bild verwendet hat, bei dem es keinen inhaltlichen Zusammenhang zu den in der Meldung erwähnten Luftangriffen gibt. Stattdessen geht es um die Verteilung von Lebensmitteln durch die UN-Agentur UNRWA vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie.
Die einzig mögliche und logische Begründung für die Bildauswahl ist, dass sowohl im Bild als auch im Text um den Gazastreifen geht. Damit stellt sich jedoch die Frage, warum das Bild einer Frau mit Kind auf dem Schoß neben Lebensmitteln und nicht irgendeine andere Alltagsszene aus dem palästinensischen Küstenstreifen ausgewählt wurde. Dies zeigt auf, wie willkürlich die Bildauswahl ist. Darüber hinaus ist der Rückgriff auf Kinderbilder aus Kriegsgebieten eine gerne genutztes Klischee. Nicht einmal der Zusatz „Symbolbild“ hätte in diesem Fall einen Unterschied gemacht, wäre dies doch nur dann passend, wenn der eigentliche Inhalt der Nachricht der israelische Angriff auf den Gazastreifen symbolisch dargestellt worden wäre. Das Dilemma besteht gleichwohl darin, dass zu den erwähnten Ereignissen zumindest bei Imago Images – und vermutlich auch bei anderen Agenturen – kein Bildmaterial zur Verfügung stand.
Text: Dr. Felix Koltermann