Wie stellt sich der deutsche Tageszeitungsjournalismus dar, wenn man nur auf die Titelseiten schaut? Dieser Frage ist Felix Koltermann in einer exemplarischen Analyse der Cover überregionaler Qualitätszeitungen nachgegangen. Für die Analyse wurde per Zufall der 07. Juli 2020 ausgewählt.
Wendet man sich überregionalen Tageszeitungen in Deutschland aus dem Bereich der Qualitätspresse zu, geraten sechs Zeitungen in den Blicken, die hinsichtlich Ausrichtung, Auflage, Gestaltung und Eigentümerschaft nicht unterschiedlicher sein könnten. Dies sind die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), die „Frankfurter Rundschau“ (FR), das „Neue Deutschland“ (ND), die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), „die tageszeitung“ (taz) sowie „Die Welt“. Während FAZ, SZ und WELT im großen Nordischen Format erscheinen, werden taz (Berliner Format) und nd (Rheinisches Format) in kleineren Formaten gedruckt. Einzig die FR erscheint im kleinen Tabloid-Format das ungefalzt bleibt.
Obwohl es am Tag vor dem Erscheinen keine besonderen Ereignisse nationaler und internationaler Tragweite gab, zeichnen sich auf den Titelseiten der sechs Zeitungen zwei Schwerpunktthemen ab: zum einen die Debatte um eine mögliche Abschaffung der Maskenpflicht im Einzelhandel, zum anderen der Tod des Filmmusikomponisten Ennio Morricone. Während Ennio Morricone gleich in drei Zeitungen mit einem Aufmacherbild in Erinnerung gerufen wird (FAZ, FR, WELT), widmet nur die taz der Maskenpflicht ihr Aufmacherbild. Andere, weniger aktuelle Themen stellten ND und SZ in den Mittelpunkt. Mit Ausnahme des ND handelt es sich bei den abgedruckten Fotografien entweder um Agenturbilder oder Filmstills.
Die Titelseiten in der Einzelkritik
Die am 1. August 1949 gegründet FAZ ist im Besitz der FAZIT Stiftung und erscheint im Nordischen Format. Am 7. Juli 2020 war das über drei Spalten gezogene Aufmacherbild ein Still aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“, auf dem eine Galgenszene unter einem Torbogen in einer wüstenähnlichen Landschaft zu sehen ist. Es war mit der Überschrift „Ennio Morricone gestorben“ und einem 10-zeiligen Teaser versehen, der auf einen Nachruf im Feuilleton auf Seite 9 verweist. Das Thema des Leitartikels unter dem Aufmacherbild sowie des Kommentars rechts daneben ist die politische Debatte um die Maskenpflicht. Weitere Themen der Titelseite sind die gerichtliche Aufhebung des Lockdowns in Gütersoh, ein geplantes europäisches Gesetz zur Hasskriminalität sowie der Umgang mit den Finanzen der Kommunen.
Die am 1. August 1945 gegründete „Frankfurter Rundschau“ (FR) gehört nach vielen Eigentümerwechseln heute zur Verlagsgruppe von Dirk Ippen. Lange war sie das linksliberale Aushängeschild auf dem überregionalen Zeitungsmarkt. Das schwarz unterlegte Aufmacherbild der FR zeigt den Schauspieler Charles Bronson in einer Szene aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“. Anlaß war ein Nachruf auf den Seiten 22 und 23 auf den am Tag vorher verstorbenen Filmmusiker Ennio Morricone. Das Bild nimmt einen Großteil der Titelseite ein. Der Kommentar von Stephan Hebel darunter beschäftigt sich mit der Weigerung des Bundesinnenministers Horst Seehofer, eine Studie zu Rassismus in der Polizei durchzuführen.
Das „Neue Deutschland“ (ND) ist die überregionale Zeitung mit der kleinsten Auflage. Sie wurde am 23. April 1946 in der sowjetischen Besatzungszone gegründet und war nach der Wende einige Jahre im Besitz der SED-Nachfolgepartei PDS. Das Thema des Leitartikels ist eine Serie rechtsextremer Anschläge in Berlin auf. Das dazu publizierte farbige Bild des freien Fotografen Florian Boillot zeigt das ausgebrannte Wrack eines mutmaßlich von Rechtsextremisten angezündete Autos vor der Filiale einer arabischen Konditorei in Berlin-Neukölln. Der zweite Aufmachertext thematisiert die Maskenpflicht im Einzelhandel. Auf den Nachruf zum Tod von Ennio Morricone verweist ein freigestelltes Portrait des Filmkomponisten in der Logozeile.
Die am 6. Oktober 1946 gegründete „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) aus München hat die größte Auflage unter den überregionalen Blättern und ist im Besitz der Südwestdeutschen Medien Holding. Sie wählte das ungewöhnlichste Titelbild des Tages. Mittig auf der oberen Seitenhälfte über vier Spalten platziert zeigt die grünliche Unterwasserfotografie eine Robbe. Der Bildtext verweist auf einen Artikel in der Rubrik „Wissen“ über Flora und Fauna in der Ostsee, die in Konkurrenz zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Meeresregion stehen. Die drei darunter folgenden Leitartikel thematisieren eine Gerichtsentscheidung zum Lockdown im Kreis Gütersloh, die Wiederaufnahme der Filmdrehs der Hollywoodstudios, sowie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Dienstleitungsunternehmen in Coronazeiten.
Die 1978 gegründete taz hat die kürzeste Geschichte unter den überregionalen Zeitungen. Über eine Genossenschaft ist sie im Besitz ihrer Leser*innen. Während sie thematisch mit der Maskenpflicht auf eines der Hauptthemen des Tages zurückgreift, wird für die Titelseitengestaltung der Weg der Collage von acht quadratischen Bildern von zumeist Politiker*innen mit Masken gewählt, die von der dpa bzw. der picture alliance stammen. Inhaltlich gebrochen wird dies durch ein Bild eines Boxers ohne Mundschutz in Abwehrstellung. Dazu wurde die ironische Überschrift „Mit Maske ist schöner“ gewählt. Abgerundet wird die Titelseite durch einen Kommentar zum gleichen Thema.
Die am 2. April 1946 in Hamburg gegründete Tageszeitung „Die Welt“ hat die dritthöchste Auflage der überregionalen Blätter und ist im Besitz des Axel Springer Verlags. Sie machte mit einem großformatigen Stil aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“ auf, der auf einen Nachruf weiter hinten im Blatt verweist. Die Fotografie ist mittig auf der oberen Hälfte der Seite platziert und hat neben der SZ als einziges Text im Bild. Dies ist ein gestalterisches Markenzeichen der Welt. Die beiden Leitartikel auf der unteren Hälfte der Seite drehen sich um die abgesagte Studie zu Rassismus in der Polizei sowie die Debatte um die Maskenpflicht im Einzelhandel.
Schaut man sich die Titelseiten im Vergleich an, so fällt auf, dass Fotografie eher mit dem Zweck eingesetzt wird, Interesse zu wecken und auf Texte weiter hinten im Blatt zu verweisen, anstatt als Informationsträger zu dienen. Einzig die vom ND veröffentlichte Fotografie fällt unter die Kategorie Nachrichtenbild. Von der Größe und der Platzierung her haben FAZ, ND, SZ und WELT ähnliche Ansätze. Auffällig ist die Titelseitengestaltung der taz, die sehr stark einen Magazincharakter hat und von allen sechs besprochenen Ausgaben am weitesten vom klassischen Format Zeitung abweicht. Was die Herkunft der Bilder angeht, so wird vor allem Fremdmaterial von Agenturen oder anderen Dienstleistern verwendet.
Detaillierte Blattkritiken der Zeitungen „Frankfurter Rundschau“, „Neues Deutschland“ und „Die Welt“ finden sich auf dieser Webseite unter der Rubrik Blattkritik. (Jedoch zu anderen Tagen)